Sitzen vier Menschen im Auto

07Mär13

Es ist Ende der 80ger, der Wind der Umwälzung fegt durch Europa. Die Mauer ist noch nicht gefallen, aber Polen steht bereits offen. Ein Siebenjähriges Mädchen in Schlesien packt ihre Sieben Sachen – eine leere Cola-Dose, eine Gummibärchentüte (ebenfalls leer) und andere Schätze aus ihrem Besitz – und flieht, alleine, nach BRD. Das ist sie auch schon, die Geschichte der kleinen Ola aus Polen.

sitzen vier polen im auto

Ein falsches Komma in meinem Blog kann einen Sturm auslösen, der ein Tagpfauenauge auf der anderen Seite des Globus dazu bringt, mal einen Tag lang im Bett liegen zu bleiben. Deshalb achte ich genau darauf, für wen ich mein Wort ins Feuer lege, und ob ich den möglichen Ärger in Kauf nehmen möchte. „Sitzen vier Polen im Auto“ heißt der erste Roman von Alexandra Tobor. Für ihr Övre lege ich dazu meinen kleinen Finger aufs Schafott. Oder: Für die Tobor steh ich Nachts auf, um sie deiner Mutter zu empfehlen.

Sie war mir zuvor von ihrem anspurchvollen Blog bekannt, und noch weiter davor hatte ich sie über ihren kongenialen Twitter-Account kennengelernt. Lest beide an, vielleicht bleibt Ihr hängen, so wie ich.

Es sitzen also vier Polen im Auto – des Mädchens erster Fluchtversuch misslang -, und fahren in die BRD, einen Neustart zu wagen. Ein Aufbruch. Es stehen Existenzen auf dem Spiel. Eine seriöse Sache das. Wie geht man mit dem Thema um? Bei Tobor ist Humor das Mittel der Wahl.

Man könnte den Roman in 3-4 Erzähl-Szenerien unterteilen. Aus der Froschperspektive einer grundschulalten Ola wird zunächst das Leben in Polen gezeigt. Es folgt die Überfahrt in die BRD und das Leben in Auffanglagern, zuletzt Umzug in die eigene Wohnung. Diese Lebensstationen der Ola dienen als Rahmen für die Erzählung. Gefüllt werden die Rahmen mit vielen überspitzten oder realistischen Bildern, die oft satirisch verarbeitet sind. Ernste Themen kommen zur Sprache, werden aber ironisch konterkariert. Weder sich, noch die Welt im allgemeinen sollte man zu ernst nehmen, das bekomme ich in der Lektüre bestätigt.

Ich möchte die Handlung nicht en Detail wiedergeben, soll jeder selbst nachlesen, wenn ihm lustig zumute werden soll. Ich möchte nur einige Aspekte, die für mich persönlich wichtig sind, ansprechen.

1. Wovon lebt die Erzählung? Es ist kein Krimi, kein Thriller, kein Liebesdrama. Dennoch ist die Geschichte spannend. Nicht nur, dass man die kleine Ola bald liebgewinnt und daher ihrem Lebenswandel folgen möchte, (das ist das mindeste, was man von einer Geschichte erwarten kann). Im gleichen Maße interessant fand ich die Spannungverhältnisse in den Spannungsverhältnissen. Zunächst das Spannungsverhältnis zwischen einem Leben im kommunistischen Polen und dem in der paradiesischen kapitalistischen BRD.

Für mich ein interessanter Kulturenvergleich, bei dem, scheinbar, die BRD gut wegkommt. Ich finde, nicht immer. Gerade dieser Kontrast, der sich zwangsläufig aus dem Vergleich der beiden Länder der damaligen Welt ergibt, brachte der Schriftstellerin einige kritische bis barsche Kommentare von Seiten mancher polnischer Spätaussiedler. Ich verstehe auch vollkommen, warum. Das Buch bietet keinerlei Angriffsfläche für verklärende oder romantisierende Projektionen, zu denen ein heimwehleidender Schlesier neigen mag. So humoristisch der Roman, so harmlos die kindliche Protagonistin anmutet, eine Qualität des Buches ist: Es ist schonungslos.

Ich habe viele positive Kommentare von Deutschen zum Buch gelesen oder im Radio gehört. Viele davon gingen so: „Hahaha, ist es witzig!“ -. Richtig, das Buch ist witzig, jedoch auch mehr als das. Den meisten Kommentatoren war scheinbar nicht aufgefallen, dass das Paradies BRD nicht ohne Seitenhiebe, nicht ohne Risse davonkommt. Die Kritik des Buches an der Arroganz und der Oberflächlichkeit der durchaus gutmeinenden Deutschen kam bisher zumindest nicht zur Sprache. Die Korrumpierung durch Besitzgier, der polnische und ddrische Kinder anheimfallen, als die Sozialarbeiter Haufenweise Spielzeug ins System kippen, ist nur ein Beispiel dieser Kritik. Der BRDler überschüttet die naiven Kindergemüter mit Glasperlen, in der Absicht zu erfreuen und Gutes zu tun, doch verdirbt er mehr als er hilft. Ein anderes Beispiel für die besagte Ignoranz ist der Charakter der sporadisch im Heim auftauchenden Deutsch-Lehrperson, die den Bewohnern Zungenbrecher beizubringen versucht – Fischers Fritz fischt frische Fische … – anstatt praktische Sätze zu vermitteln, die man im Alltag oder auf der Arbeit gebrauchen könnte. Natürlich ist dieser Ansatz, mit erwachsenen Menschen umzugehen, zum Scheitern verurteilt. Diese Randgeschichten finden eine leise Erwähnung, eine Wertung durch die Autorin findet nicht statt. Umso stärker wirkte auf mich die unausgesprochene Kritik.

2. Das Spannungsverhältnis auf personaler Ebene. Die harmonieliebende, gutmütige Mutter einerseits, die extrovertierte, keinen Konflikt scheuende und manchmal orkanartig wütende Mutter der Mutter. – Die Oma ist für mich die zweite Hauptfigur des Romans, obwohl sie quantitiv seltener vorkommt als die Kindseltern. Man spürt, dass die Tobor bei der Entwicklung dieses Charakters Gas gegeben hat, vermutlich selbst großen Spaß an ihr hatte. Dieser Spaß übertrug sich auch auf mich, den Leser. – Ein weiteres Spannungsverhältnis: Die Kindersicht der Welt steht gegenüber der Erwachsenenwahrnehmung. So etwas kommt immer gut, vergleichbar mit Catzenkontent. — Etc. pp. viele kleine Spannungsfelder machen die Geschichte.

3. Zur Sprache des Buches. Wenn Alexandra Tobor eins kann, dann ist es schreiben. So viel vorweg. Das Mitfühlen des Lesers wird ohne Vorlauf aktiviert. Die Techniken, die dazu vonnöten sind, beherrscht die Schriftstellerin fließend. Dennoch könnte ich hier kritisieren. Manchmal, ganz selten, aber oft genug, dass es mir auffiel. Tobor ist Meisterin des Twitterns, zumindest war das ihr Leistungskurs in der Schule, das spürt man hin und wieder auch im Buch.

Der Twitterstil hat fürs Schreiben langer Texte seine Vorteile aber auch Fallstricke. Was macht einen guten Tweet aus? Er erzählt eine Geschichte auf maximal 140 Zeichen Breite. D.h. ein Tweet muss zwangsläufig weise, witzig oder sonst wie pointiert sein, er muss per Knopfdruck ein Universum im Kopf seines Lesers einschalten. Klingt nützlich fürs Schreiben, nicht wahr, schließlich soll ein Text, egal welcher Gattung, genau das bewirken.

Doch können Tweettexttechniken beim Verfassen langer Texte im Weg stehen, und umgekehrt. Ich kenne Leute, die hervorrande Autoren sind, Poetryslams gewinnen, als ausgemachte Talente gelten. Und sie haben noch nie einen vernünftigen Tweet zustande gebracht. Der ganze Esprit, der sonst ihren Texten innewohnt, ist nicht hauchweise in ihren Tweets zu erkennen. Kurz: sie sind langweilige Twitterer. Es gibt eine gewisse Schnittmenge guter Schreiber, die gleichzeitig gute Twitterer sind, in dieser Schnittmenge ist Tobor anzusiedeln. Und doch darf auch ein Meister des Schnitzens nicht nachlässig werden, will er beim Modulieren einer Miniaturfigur derselben nicht die filigrane Nase abschnibbeln.

Es gibt zwei Stellen im Buch, an denen ich dachte, wozu diese Abschweifung? Und dann sah ich warum: Am Ende des Absatzes stand eine hervorragende Pointe. Sie wirkte, sie amüsierte, und sie hatte keinerlei Erkenntnisgewinn oder eine Notwendigkeit für den Fortgang der Geschichte. Ein glasklarer Tweet. Was auf Twitter.com alleinstehend funktioniert, benötigt im Buch eine Hinführung. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um die Hinführung in einen sinnvollen Zusammenhang zur Geschichte zu stellen. Das muss nicht immer gelingen.

Alexandra Tobor betonte selbst in diversen Interviews, sie habe eigentlich nur ihre Tweets genommen und sie zu einer langen Geschichte verflochten. Es ist ihr gut gelungen. In 99% aller Fälle. Eine vorzügliche Quote.

Ein Grußwort an die Lektoren des Buches: Bei der zweiten Auflage bitte folgendes ändern: Im Verlauf der Geschichte bekommt Ola einen 5-Euro-Schein geschenkt. – Das glaube ich kaum. Es ist 1990, wir hatten damals 5-Euro-Stücke, nicht Scheine. Desweitern: der letzte Satz ist deplaziert, weil drangeklatscht. Er stört den Nachklang. Er würde viel besser wirken, wenn er nicht vorhanden wäre.

Fazit: Das Buch ist ein großer Lesespaß. Leider ein viel zu kurzer. Die Geschichte ist dazu prädestiniert, um fortgesetzt zu werden. Ich habe die kleine Heldin ins Herz geschlossen, und möchte wissen, wie sich ihr Werdegang ausmacht. Olas Abenteuer in ihren teenage-mutant Jahren würden mich brennend interessieren. Doch kann ich mich beruhigen: Man munkelt, eine Fortsetzung werde es geben. Beim Lesen dachte ich natürlich hin und wieder an unsere Kollegin Hannibla, zufällig Polin von Herkunft und Lektorin von Beruf, fragte mich, was sie wohl zu diesem Buch meinte.

Zum Reinschnuppern empfehle ich Euch die von der Autorin eingelesenen Hörproben. Es sind die ersten zwei Kapitel aus dem Buch Olas.

Übrigens, der Roman ist im Juni 2012 erschienen, er ist heute so gut wie vergriffen. Amazon hat nur noch 7 Stück auf Lager, greift zu, solange Ihr noch könnt.

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer
von Alexandra Tobor
272 Seiten, Ullstein Taschenbuch, EUR 9,99



14 Responses to “Sitzen vier Menschen im Auto”

  1. 1 Buchtturmverwaltungsamt Niederbayern

    Wau, da ich dich schon ein bisschen kenne, und weiß, was für ein pedantischer, korinthenkackender, pingeliger, leicht nervöser Charakter du in der Hinsicht bist, muss das Buch tatsächlich überragend sein. Denn dass du so viel Text und sooo viel Possitives schreibst, grenzt geradezu an ein Wunder. Auch wenn ich in Bücherbergen, die ich unbedingt noch lesen soll, ersticke, werd ich mir das wohl auf die Liste setzen. Twittern ist allerdings ein absolutes Nogo. Soviel hohle Beiträge auf einen Haufen zwangen mich dereinst, dem Überwachungsmedium genauso wie facebook abzuschwören… Aber ey, und das nehme ich mit Freude zur Kenntnis: Bei dir ist endlich wieder mal Licht! Freut mich.

    • Die Tobor ist eine Gute. Und zwar nach unser beider Verständnis. – Erinnerst du dich an unsre Diskussion über die neue Mitte? Sie gehört dazu. 😀

      Und zu meinem neuen licht-sein: Ich habe beschlossen, wieder licht zu sein. Es funktioniert.

      • 3 Buchtturmverwaltungsamt Niederbayern

        Was so ein bisschen Wille ausmachen kann, ist immer wieder ein Wunder. Aber anders kommt man aus bodenlosem Gefühlsbrei auch nicht raus… Und weils dir jetzt wieder gar so gut geht, erlaub ich mir jetzt sprachakrobatische Spitzen zum Thema. Aalso dein abonniertes Klugscheißerchen hat folgendes anzumerken: Bass nua uff, dassde uns vor lauter Licht nicht blendest… 😉 Denn es hat was Paradoxes, wenn sich Menschen in Anwesenheit von Strahlern nur noch wünschen, in deren Schatten zu stehn… du verstehn? Nix verstehn? Gut, dann andersrum: Der Geblendete sieht nichts mehr, und das helle Licht zieht vor allem Motten an, die dann doch nur an einem verbrutzeln. Das macht das Licht dann traurig und damit wieder dunkel … Die Natur hats so geregelt, dass es Tag und Nacht gibt und auch der Strahlenste nicht immer helle sein kann… Will heißen: Der Wille ist genauso wie der Gefühlsbrei hinterfotzig und trügerisch. Wenn du einen Flow hast, ist es sehr sehr schön und ein Grund es vollends zu genießen. Aber setz einfach die Erwartung an dich selbst nicht zu hoch… dann fällst du auch nicht so tief… das sag ich mir übrigens auch immer wieder, aber wenn ichs anderen erzähl, begreif ichs selbst besser…

  2. 4 ein kollege

    wie immer nicht so ganz zum thema passend. lest dasnuf. eine liebenswerte mutter bloggt. in den letzten zwei jahren nicht ganz so prickelnde texte. dieser hier (http://dasnuf.de/experimente/kitavortrag/) scheint aber (imo) die wende einzuläuten. bin großer fan der alten texe und ihr solltet euch die mühe machen.

  3. 5 ein kollege

    oh shit! adalbert, du solltest eine korrekturfunktion implementieren. würde mir mehr als helfen. 🙂

  4. 6 martin

    Hatten wir beides, 5 DM Scheine und Münzen!

  5. Ich bitte um ein wenig Geduld, habe das Buch soeben bestellt – Dein Post hat mich umgestimmt, denn eigentlich hatte ich das Buch zwar zur Kenntnis genommen, aber ich war mir sehr unsicher, ob ich es lesen möchte, denn ob ich Polin bin oder Deutsche oder Spätaussiedlerin oder verdammtnochmalwaseigentlichundlasstmichdocheinfachinruhedamit?!?! sorgte für einige weniger schöne Momente, Erinnerung und Auswirkungen in meinem Leben. Nun bin ich aber doch neugierig. Und werde berichten! 🙂

    • Hast du dich ursprünglich auch vom Titel des Buches abschrecken lassen? – Ich finde ihn maximal Mittelmaß. Ist allerdings auch eine Erfindung des Verlags, da die Autorin sich schwer tat, selbst einen zu finden.

      • Auch. Und weil die Kurzbeschreibung die Kurzfassung meiner Biographie sein könnte … ein paar Details ein wenig anders, aber macht (mir) halt alles nicht so Appetit aufs Buch. Aber bin wie gesagt nun doch neugierig.

  6. Zwischenbericht zur Halbzeit … Habe noch gegrinst bei dem blauen Schulkittel mit weißem Kragen und bei der Beschreibung des rosa Ranzens mit Hund war’s fast gruselig, weil ich exakt (!) solch einen hatte … aber ansonsten mag ich nach 142 Seiten kaum noch weiterlesen. Bin enttäuscht und genervt, die Familie ist mir so richtig unsympathisch und der Lektorin sträuben sich die Nackenhaare. Ich glaub, das ist nichts für diejenigen, die das so oder ähnlich selber erlebt haben. Machen wir’s lustig für die anderen? Dadurch irgendwie noch enttäuschender.

    Nochmal 5 Minuten drüber nachgedacht. Und bin bloß noch genervter. Hm.

    • Danke für deine erste Einschätzung! – Krass, wie unterschiedlich die Lesart sein kann. Ich kann es schwer einschätzen, wie dieser Text auf Betroffene wirkt. Auf mich wirkt er Verständnis stiftend. Die polnische Kultur nehme ich bewusster wahr, wenn sie mir im Alltag begegnet. Aus Sympathie für Ola.

      Erhachte das Buch daher für sinnvoll. Es mag klamaukig daher kommen, es macht sich jedoch nicht lustig. – So lese ich es.

      Berichte, ob du inzwischen ganz aufgegeben hast oder doch noch weitergelesen hast.

      • Ich hab’s immer wieder probiert, aber geht nicht – und das hat mich selber überrascht, wie sehr man sich gegen ein Buch sperren kann. Krass!

      • Echt krass, aber du bist nicht alleine. Tobors Mutter hat ihre Tochter dafür „verstoßen“. – Zumindest goutiert sie das Buch in keinster Weise.


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